Ein Altersforscher berichtet, was er gelernt hat, über den Alterungsprozess, über alte Menschen und – warum er manchmal ein schlechtes Gewissen hat.
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit dem Altern des Menschen. Anlass war die Erkenntnis, dass der demografische Wandel mit seiner schnell wachsenden Zahl alter und sehr alter Menschen unumkehrbar sein würde. Eine solche gesellschaftliche Konstellation hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Wir können also nicht aus der Geschichte lernen, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft immer älter wird, langsamer, aber auch reifer. Je mehr wir aber über den Alternsprozess wissen, welche biologischen und psychischen Veränderungen das Altern mit sich bringt, desto besser wird das Zusammenleben der immer geringeren werdenden Zahl junger Menschen mit den Alten gelingen. Dies war 1994 einer der Gründe, warum ich den ersten Altersanzug entwickelt habe.
In diesem Beitrag möchte ich schildern, wie der von meinem Team und mir entwickelte Altersanzug mich selbst beeinflusst und geprägt hat. Das häufige Erleben des Alters mit und in unseren Altersanzügen – ja ich trage unsere AgeMan® und AgeExplorer®-Anzüge immer wieder selbst, wie auf dem Foto oben – hat mich verändert. Ich erlebe Altern inzwischen mit einer Mischung aus Verzweiflung und Bewunderung.
Altwerden ist ein mehrdimensionaler Prozess
Schlechter Hören, schlechter Sehen, weniger Kraft, weniger Ausdauer, nachlassende Beweglichkeit, das alles kann man sich – isoliert betrachtet – noch ganz gut vorstellen. Etwas völlig anderes ist es, diese Auswirkungen des Alterns kombiniert zu erleben. Denn gerade das ist typisch. Der Körper altert nicht partiell, sondern ganzheitlich. Und um diese Kombination von Einschränkungen nachempfinden zu können, erweisen sich unsere Altersanzüge täglich als sehr effektiv.
Das erste Ergebnis dieses Blicks in das Alter – das ja auch das eigene Alter sein könnte – ist Verzweiflung. Jedenfalls bei mir und manchen anderen Probanden. Allerdings: Eine Wende ist möglich, wenn man dann fragt, ob dies alles unausweichlich ist, oder ob man selbst ein bisschen steuern kann.
Wir können unser biologisches Alter beeinflussen
Das Altwerden ist unausweichlich, aber wir können die Zeitachse beeinflussen, in welchem Alter wir bestimmte Dinge erleben. Das motiviert dann wieder, weil wir aus der Rolle des „Opfers“ in die Rolle des Gestalters wechseln können.
Wenn meine Waage feststellt, dass sich das Verhältnis zwischen Muskelmasse und Fett in meinem Körper zu Lasten der Muskelmasse verschoben haben, kann einen das zunächst kalt lassen. Wenn die Waage aber als Konsequenz meldet, dass mein biologisches Alter sich dadurch um 4 Jahre erhöht hat, wird es bedrohlich. Genau so funktioniert Altern. Muskelmasse nimmt ab, Fettanteil steigt. Ergebnis: weniger Kraft, Einschränkungen der Beweglichkeit, das Leben wird beschwerlicher, anstrengender.
Dieser Wechsel zwischen Fettgewebe und Muskelmasse ist einer der Effekte, die man mit unseren Altersanzügen erleben kann. Ohne den eigenen Körper zu malträtieren und mit sicherer Rückkehr in jüngere Jahre. Man spürt es und kann die Schlussfolgerung ziehen, dass körperliches Training den Alternsprozess nicht aufhalten, aber zumindest verzögern kann. Das Motto: Kalendarisch 80 sein, aber mit einem biologisch 65jährigen Körper. Wie fast jede Reise kann auch die Reise in die eigene Zukunft sehr lehrreich sein und neue Optionen eröffnen.
Mehr Bescheidenheit im Umgang mit alten Menschen
Was ich durch unsere Altersanzüge auch gelernt habe und immer wieder neu erfahre: Urteile nicht über andere Menschen, solange du nicht in ihrer Haut steckst. Diese uralte Erkenntnis kann man ohne Übertreibung als zeitlose Weisheit bezeichnen. Indem ich freiwillig einen Altersanzug anlege und mich für Minuten oder Stunden in die Haut älterer Menschen einfühle, gewinne ich wichtige Erkenntnisse.
Zum Beispiel die Bescheidenheit, nicht mit augenblicklicher Lebenskraft zu protzen, sondern Verständnis und Bewunderung für die gebeugte alte Dame zu empfinden, die mit ganz kleinen Schritten ihren Einkaufsroller nach Hause zieht.
Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass ich aus dem Verhalten Älterer keine schnellen und oft falschen Rückschlüsse ziehen soll. Wenn ich im Altersanzug beim Einkaufen unverhältnismässig lange zwischen zwei Joghurtmarken schwanke, ist nicht unbedingt mein Geist schwach, es könnten auch die kleinen Schriften auf dem Becher sein, die für meine Augen Schwerstarbeit sind.
Körper und Geist altern nicht synchron
Viele alte Menschen berichten von der im Alter sich öffnenden Körper-Geist-Schere. Der Körper altert und büsst manche Funktionen ein. Gleichzeitig bleibt der Geist wach, reift, man wird gelassener, und viele fühlen sich wesentlich jünger als ihr kalendarisches Alter: 15 Jahre jünger, manche sogar 20 Jahre. Was für ein Quatsch, mögen viele Jüngere denken, weil sie es sich – verständlicherweise – nicht vorstellen können. Hier hilft unzähligen Menschen – und natürlich auch mir – ein Altersanzug. Er verändert mich körperlich, er vermittelt mir die Angst, zu stürzen. Er lässt mich die Isolation fühlen, die nachlassendes Hörvermögen zur Folge hat. Er lässt mich die Wut spüren, wenn ich etwas nicht mehr allein kann, was ich 80 Jahre lang mit Leichtigkeit konnte. Er vermittelt mir das Gefühl der Hilflosigkeit, anderen ausgeliefert zu sein. Aber der Anzug kann nicht mein Ich zerstören, genauso wie der Alternsprozess das nicht kann, von dementiellen Veränderungen abgesehen.
Foto: https://flic.kr/p/2g2jYbC
Mein schlechtes Gewissen gegenüber alten Menschen
Diese Erfahrung ist sehr lehrreich und lässt mich – und viele andere auch – mit schlechtem Gewissen zurück. Warum habe ich meine gebrechlichen Eltern und Verwandten behandelt, als sei auch ihr Verstand gealtert? Warum habe ich ihren Rat nicht mehr ernst genommen? Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, wenn ein Altersanzug meinen Körper verlangsamt, mein Geist aber alles in jedem Detail mitbekommt. Die Menschen, die nicht mehr mit mir, sondern mit meinen Begleitern sprechen. Die Menschen, die mir mitleidig ihre Hilfe anbieten und denken, ich könne nicht mehr klar denken, weil meine Knie ihren Dienst versagen. Die Menschen, die Schwerhörigkeit mit Demenz verwechseln. Alles das und noch viel mehr habe ich früher nicht verstanden und viele alte Menschen nicht angemessen behandelt, manchen Unrecht oder sogar weh getan. Und manchmal hasse ich in diesen Momenten sogar meine Altersanzüge, weil sie mir mein Fehlverhalten so schonungslos vor Augen führen.
Der Weg zu Verständnis, Geduld und vielleicht sogar Faszination
Aber wir haben immer die Chance, nach vorne zu schauen. Wir haben die Gelegenheit, uns mit dem Alter und seinen unzähligen Facetten zu beschäftigen und – noch besser – den Mut aufzubringen, in die Haut der Alten und ganz Alten zu schlüpfen und für einen kurzen Moment ganz mit ihnen zu fühlen. Und wenn wir dies intensiv tun, uns diese wenigen Minuten oder Stunden gut einprägen, dann besteht die Möglichkeit, dass viele alte Menschen, denen wir zukünftig begegnen, uns dafür dankbar sein werden. Dankbar für unser Verständnis und unsere Geduld und dankbar, dass wir vielleicht sogar in der Lage sind, alte Menschen zu bewundern und uns von ihnen faszinieren zu lassen. https://ageexplorer.com/fortbildungen-altenpflege-klinik/
Gundolf Meyer-Hentschel wurde u.a. für seine Erfindung „Altersanzug“ in Marquis „Who’s Who in the World“ aufgenommen.
- Alterssimulationsanzug: Was ist das und wie funktioniert es? - 2023-11-01
- Berufstest: Welcher Gesundheitsberuf passt am besten zu mir? - 2023-06-20
- AgeMan® GeroQuiz - 2023-06-16