Einsamkeit durch Missverständnisse im Pflegeheim

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Missverständnisse im Pflegeheim

Seit vielen Jahren bin ich in Alters- und Pflegeheimen unterwegs, um Pflegefachpersonen und Lernende mit unseren Alterssimulationsanzügen zu schulen für ein Plus an Empathie den alten Bewohnern. Dabei höre ich zu Beginn oft Berichte von „seltsamen“ Älteren, spüre Unverständnis über Reaktionen bzw. Nicht-Reaktionen Älterer und beobachte auch Aktionen, die Missverständnisse im Pflegeheim auslösen können. Als „wandelnde AgeExplorer“ erkennen mein Team und ich viele Schieflagen schon im Ansatz und können dann zum Glück unser Wissen weitergeben und begreifbar machen, damit solche wie die folgenden Begebenheiten nach und nach zur Ausnahme werden.

Ein Fall, von dem uns die Pflegedienstleitung einer Einrichtung berichtete, hat uns besonders betroffen gemacht:

Makuladegeneration: „Haben Sie das jetzt verstanden?“

Frau M. (78) leidet an Makuladegeneration, ist geistig dagegen völlig fit. Aufgrund ihrer Makuladegeneration hat sie Schwierigkeiten, Personen zu erkennen und z.B. auch fernzusehen oder zu lesen. Deshalb hat sie auch Probleme mit dem Lesen aller schriftlichen Informationen aus dem Haus und natürlich auch mit dem Speiseplan. Nun wurde eine jüngere Pflegekraft gebeten, Frau M. aus diesem Grund den Speiseplan der Woche vorzulesen, was sie dann auch tat, und zwar auffällig langsam (was schon daraufhin deutete, dass sie den Zustand von Frau M. nicht richtig einschätzen konnte). Am Ende fragte sie Frau M. prompt „Haben Sie das alles verstanden?“ Schlimmer kann man jemanden nicht vor den Kopf stossen, beschämen und verletzen. Sie tat es zwar unabsichtlich, aber man hätte dieses gravierende Missverständnis vermeiden können, wäre die Mitarbeiterin entsprechend geschult gewesen.

Empathie-Training mit einer solchen Simulationsbrille kann Missverständnisse im Pflegeheim vermeiden.
MIt einer solchen Simulationsbrille kann man nachvollziehen, wie das Sehvermögen durch eine altersbedingte Makuladegeneration eingeschränkt sein kann.

„Die grüsst nie.“

Frau S. (87) leidet an Hörproblemen und hält sich häufig in ihrem Zimmer auf, da es für sie sehr mühsam ist, Gespräche der übrigen Bewohner zu verfolgen bzw. sich mit ihnen zu unterhalten. Gerne sitzt sie daher in einem Sessel und liest oder schaut fern. In ihrem Zimmer wird sie von verschiedenen Personen besucht. Schwester A. beispielsweise grüsst bereits – und nur – beim Eintreten und berichtet gleich von ihrem Besuchsgrund auf dem Weg zum Sessel. Frau S. hat davon „wenig“ gehört und wundert sich, warum Schwester A. weder grüsst noch informiert, warum sie ins Zimmer gekommen ist … Dann erfährt Schwester A. eines Tages, dass Frau S. anderen erzählt hat, A. grüsse nie. Man kann sich vorstellen, dass die Beziehung zwischen beiden dadurch enorm zu leiden beginnt. Schwester A. kommt eben nicht darauf, wie es zu diesem Missverständnis kam und denkt, Frau S. habe etwas gegen sie persönlich …. Dies alles hätte sich vermeiden lassen, wenn Schwester A. die Hörprobleme von Frau S. in all ihren Auswirkungen realisiert und gewusst hätte, wie sie sich entsprechend zu verhalten hat, um solche unnötigen Missverständnisse zu vermeiden.

Rollstuhl bewegt sich „wie von selbst“.

Frau P. (82) sitzt im Rollstuhl und fährt im Haus umher. Hier und da bleibt sie stehen und beobachtet, teils gedankenversunken, das Treiben um sie herum. Nun passiert es (und das ist kein Einzelfall), dass eine Pflegekraft sich ihr von hinten nähert und – ebenfalls von hinten – „ankündigt“, sie fahre Frau P. ein wenig zur Seite … Für Frau P. bewegt sich der Rollstuhl daraufhin plötzlich wie von selbst, sie bekommt Angst, reisst die Arme hoch und schreit. Daraufhin wird sie für übertrieben ängstlich oder sogar für aggressiv gehalten … Dass sie von der Ankündigung nichts gehört hat, da die Pflegekraft einfach von hinten etwas redete, darauf kommt eine in dieser Hinsicht ungeschulte Mitarbeiterin nicht ohne weiteres. Sie sieht die Ursache für das auffällige Verhalten von Frau P. nur in deren Verfassung. Und so wird Frau P. dann auch behandelt.

Foto: https://flic.kr/p/5TZdWG

Eine „seltsame Frau“ – Missverständnisse im Pflegeheim

Neulich wurde uns in einem Pflegeheim von einer Dame berichtet, die „sehr seltsam sei“: Sie wolle im Speisesaal nicht am hellen grossen Fenster sitzen, sondern im Raum drinnen, und da bat sie dann um eine Lampe auf ihrem Tisch … Für das Personal nahezu unverständlich, da es aus ihrem Blickwinkel wie ein Widerspruch erschien oder auch wie eine Marotte …. Glücklicherweise waren wir vor Ort und konnten die Frau „rehabilitieren“, indem wir dem Personal erklärten, dass ältere Menschen häufig unter erhöhter Blendempfindlichkeit leiden und deshalb Sonnenlicht (sowohl am Fenster als auch draussen) meiden und lieber im Raum weiter innen sitzen.

Dort ist es aber zu dunkel, um Dinge auf dem Tisch bestmöglich erkennen zu können. Deshalb die Bitte der Dame nach einer – sie nicht blendenden – Tischlampe. Ergebnis: Grosses Staunen und schlechtes Gewissen ohne Worte.

Tipp: Auch wenn Sie in ein Zimmer kommen und zugezogene Vorhänge sehen, lassen Sie nicht einfach Ihrem Bedürfnis freien Lauf mit den Worten „Ach, da lassen wir jetzt aber mal die schöne Sonne rein!“ Gut gemeint, fällt aber in die Kategorie „übergriffig“.

Missverständnisse im Pflegeheim: viele Ältere heben den Fuss, wenn sie einen Aufzug betreten. Sie tun dies aus Sorge, dort sei eine Schwelle.

Füsse heben, obwohl alles eben ist?

Wer als Älterer von Jüngeren beobachtet wird, wenn er vor dem Betreten eines Aufzugs zögert und sogar die Füsse hoch über die Schwelle hebt, wird vorschnell als seltsam erlebt: „Ist doch alles eben, und das sieht man.“ Das Problem liegt bei „man“: Wenn man allerdings Sehprobleme hat und sich zusätzlich nicht ganz sicher auf den Beinen fühlt, kann dies Furcht oder zumindest das Bedürfnis nach Vorsicht beim Gehen hervorrufen. Wenn dann ein Boden unterschiedliche Farbabschnitte und Materialien aufweist, bringt das optisch Unruhe und ruft zur Vorsicht. Also lieber die Füsse heben, als irgendwo hängenbleiben oder anzustossen und zu stürzen. Man weiss als Älterer aus Erfahrung, dass es durchaus hier und da kaum sichtbare kleine Erhebungen gibt, die bei Nichtbeachtung zu Stürzen mit oft bösen Folgen führen können.

Für junges Pflegepersonal und Lernende ist dieses „Phänomen“ des Füssehebens bei objektiv ebenen Stellen immer wieder ein Grund für eine missverständliche Einschätzung älterer Bewohner. Dabei liegt die Erklärung völlig auf der Hand, wenn man für diese Zusammenhänge sensibilisiert und geschult ist. Und ganz grundsätzlich: es kommt nicht auf objektive Gefahrenquellen an, die subjektiv wahrgenommenen sind ebenso ernst zu nehmen.

Foto: https://flic.kr/p/5o6vZW

Fragen im Vorbeigehen: Schall und Rauch

Frau N. sitzt bei einem Kreuzworträtsel im Aufenthaltsraum, während Schwester F. – im Vorbeigehen, kurz im Gang stehenbleibend – fragt „Na, Frau N., soll ich Ihnen einen leckeren Kaffee bringen?“. Von Frau N. kommt daraufhin keinerlei Reaktion, so dass sich Schwester F. sagt „So unhöflich, nicht zu antworten. Werde Frau N. nicht mehr fragen, ob ich ihr mit etwas eine Freude machen kann!“

Frau N. hat von all dem natürlich nichts mitbekommen, denn vertieft in ein Kreuzworträtsel haben Vorbeigehende keine Bedeutung für sie, betrifft sie ja nicht, und was diese sagen, eben auch nicht, sie hört es auch gar nicht. Ihr geht allerdings in dem Moment durch den Kopf: „Wenn mir jemand jetzt einen Kaffee bringen würde, würde mir das so gut tun“.

Schnee im Mai?

Wir hörten in einem Pflegeheim auch folgende Geschichte: Eine Dame schaute im Frühjahr bei sehr sonnigem Wetter aus dem Fenster und sagte „Ah wie schön, draussen liegt ja heute Schnee“. Das Pflegepersonal schaute sich gegenseitig mit grossen Augen an und war einer Meinung: Sie muss verwirrt sein, zumindest heute. Dass die Dame lediglich aufgrund altersbedingter Veränderungen des Sehvermögens „Schnee gesehen hat“, übersteigt das Vorstellungsvermögen vieler Jüngerer, welche die verantwortlichen Prozesse nicht kennen und sich von daher auch nicht hinreichend in Ältere hineinversetzen können. Ein weiterer Grund für unnötige Missverständnisse im Pflegeheim.

Foto: https://flic.kr/p/9QV2wF

Setzt man ihnen dann eine unserer Spezialbrillen auf, welche Blendwirkung erlebbar macht, sehen plötzlich auch sie Schnee bei gleissendem Sonnenlicht, obwohl sie sich als geistig völlig auf der Höhe wissen.

Schulung mit der Methode Alterssimulation kann Missverständnisse im Pflegeheim vermeiden

Soweit diese Beispiele zum Nachdenken. Die Dunkelziffer solcher und weiterer Missverständnisse lässt sich erahnen – vermeiden lassen sich umso mehr davon, je mehr (vor allem jüngere) Mitarbeitende über die Variation von Ursachen für bestimmte Verhaltensmuster Älterer informiert sind (also nicht die für sie naheliegende annehmen) und im Idealfall mit einem Alterssimulationsanzug in deren Haut geschlüpft sind: Was man selbst – bei einem Empathie-Training– eindrucksvoll erlebt hat, kann man besonders gut begreifen.

Missverständnisse im Pflegeheim

Titelfoto: https://flic.kr/p/a3VQgL

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Hanne Meyer-Hentschel

2 Gedanken zu „Einsamkeit durch Missverständnisse im Pflegeheim“

  1. Vielen Dank Frau Knoch. Genau so erleben wir es auch immer wieder. Daran erinnern, hilft sehr viel. Es selbst erleben und erfahren, noch mehr.

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