Es kann die beste Pflegekraft nicht in Ruhe arbeiten,
wenn es den lieben Angehörigen nicht gefällt.

3.7
(7)

Pflegeheim Angehörige

Erlebnis Alter für Angehörige von Pflegeheimbewohnern

von Hanne Meyer-Hentschel

Mein Team und ich beschäftigen uns als Verhaltensforscher seit über 30 Jahren mit den Bedürfnissen und Verhaltensweisen älterer Menschen. Aus vielen Gesprächen mit Pflegepersonal während dieser Zeit wissen wir von einem – sagen wir einmal – „Spannungsfeld“ zwischen Angehörigen von Pflegeheimbewohnern und dem Personal von Pflegeheimen.

Bewohner haben bestimmte Bedürfnisse und Fähigkeiten, Angehörige sehen ihre Verwandten häufig noch so, wie sie diese von früher kennen, es fehlt also die realistische Einschätzung altersbedingter Veränderungen. Und dazwischen steht das Pflegepersonal mit der Aufgabe, es beiden Parteien möglichst recht zu machen.

Energie und Zeit werden unnötig beansprucht, wenn sich Pflegepersonal gegenüber manchen Angehörigen erklären muss, warum sie dies und jenes nicht mit der Mutter/ dem Vater unternehmen. Die Antwort, sinngemäss, das könne sie/ er nicht mehr, dazu sei sie/ er heute nicht in der Lage, wird nicht immer akzeptiert und stattdessen dem Pflegepersonal mangelnde Bereitschaft oder sogar Bequemlichkeit unterstellt.

Bewohner „müssen“ dann mit ihren Angehörigen demonstrativ Treppen steigen oder eine Stunde im Garten umher gehen oder mit Blick in die blendende Sonne im Freien sitzen (weil das Wetter ja so schön ist). Das finden zumindest die Angehörigen, der Bewohner wäre vielleicht lieber drinnen geblieben, da ihm die Sonne in den Augen schmerzt.

Nicht immer äussert ein Bewohner seine Bedürfnisse und vielleicht gerade dann nicht, wenn es um persönliche körperliche Defizite geht. Solche Handicaps muss man erst einmal selbst verkraften, bevor man bereit ist, es öffentlich zu machen. So hören wir häufig folgende typische Reaktion, wenn wir uns mit Älteren unterhalten:

 „Wenn ich gefragt werde, sage ich immer, dass ich keinerlei Schwierigkeiten habe. Ich will mich doch nicht schämen!“

Wir wollen Ältere weder beschämen noch unhöflich sein. Wie können wir also mehr von ihnen erfahren und sie noch besser begreifen?

Wie können wir Angehörigen ihre älteren Verwandten näher bringen?

Von Älteren hört man in dem Zusammenhang zuweilen „Steck du mal in meiner Haut, dann könntest du mich besser verstehen“. Damit wünschen sie sich mehr Verständnis dafür, wie anstrengend vermeintlich einfache Handlungen für sie sein können und dass man begreift, was dahinter steckt, wenn sie manchmal «seltsam» oder auch gar nicht reagieren. Ohne solche Erkenntnisse sind Missverständnisse vorprogrammiert.

«Steck du mal in meiner Haut!»

… dazu bietet sich tatsächlich eine Möglichkeit, und zwar mit Hilfe eines Alterssimulationsanzuges: Ein solcher Anzug vermittelt dem, der ihn anlegt, das Gefühl, in Minutenschnelle um Jahrzehnte gealtert zu sein. So können Jüngere anhand aufschlussreicher Aufgaben und Rollenspiele –  kombiniert mit psychologischen Inputs – mögliche Auswirkungen altersbedingter körperlicher Handicaps begreifen und damit realisieren: Was macht das mit mir, wenn ich schwerhörig bin, wenn ich Farben anders als früher wahrnehme, wenn meine Beweglichkeit und Fingerfertigkeit eingeschränkt ist, und wenn ich wegen nachlassender Kraft schneller erschöpft bin?

Durch das Erforschen der funktionellen Grenzen höheren Alters wird ein «heilsames» Umdenken ausgelöst über die Art und Weise des Umgangs mit älteren Menschen.

„Erlebnis Alter“ für Angehörige durch Alterssimulation

Diese Möglichkeit zur Empathie-Optimierung nutzen immer mehr Pflegeinstitutionen in zweifache Weise: Pflegekräfte werden sensibilisiert für ein Plus an Empathie, Angehörige lernen einen wichtigen Blickwechsel auf ihre Lieben, den sie verständlicherweise als Befangene alleine nicht schaffen.

Solche Angehörigen-Schulungen können vom Haus selbst organisiert werden, falls ein eigener Altersanzug zur Verfügung steht.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, für Angehörigenveranstaltungen Externe zu engagieren, um Neutralität und Exklusivität zu kommunizieren. Denn: „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Hause.“

Ein weiterer Vorteil dieser Variante: Externe bringen, quasi wie ein „Party-Service“, alles Erforderliche mit. Unser Team z.B. bietet Altersanzüge, Demonstrationsmaterial sowie – falls gewünscht – einen eindrucksvollen Vortrag mit Hintergründen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und vielen Anwendungsbeispielen. Wir organisieren bzw. machen Vorschläge zum Ablauf der Veranstaltung, und im Anschluss muss sich niemand im Haus um Aufräumarbeiten kümmern.

Selbstverständlich werden – jedenfalls wenn das Expertenteam des Meyer-Hentschel Instituts vor Ort ist – alle erforderlichen Corona-Schutzmassnahmen beachtet und umgesetzt, worum man sich dann ebenfalls nicht kümmern muss.

Moderatorin (links) erläutert Probandin den Alterssimulationsanzug AgeMan

Angehörigenschulung in einem Pflegeheim: Moderatorin Beate Baltes (links) erläutert einer Teilnehmerin den Alterssimulationsanzug AgeMan®.

Hier geht es gerade um eine Brille, mit der sich Alterssichtigkeit, eingeschränkte Fernsicht und Veränderungen des Farbempfindens erleben lassen.

Die Schulungen findet statt nach dem „AgeMan-Hygienekonzept“.

Foto: https://ageexplorer.com

Empathie-Schulung auf der Grundlage des von uns entwickelten Corona-Konzeptes (Einsatz u.a. von Einmal-Schutzanzügen, Masken, spezifisches Desinfektionsspray gegen Viren, Bakterien, Keime und Pilze, (viruzid, bakterizid, und sporizid). Auf Wunsch werden auch Einmal-Handschuhe verwendet.

Häufiges Ergebnis einer Empathie-Schulung für Angehörige – und damit Nutzen für Bewohner und Pflegepersonal

  • Schlechtes Gewissen gegenüber dem Pflegepersonal, weil man durch das Erlebnis Alter erkannt hat, wo die Leistungsgrenzen der Angehörigen liegen und  dass man unrealistische Wünsche und Forderungen and die Betreuer gestellt hat. Auf dieser Grundlage entwickelt sich die Beziehung zu Pflegekräften in eine positivere Richtung und kann bei allen Beteiligten zu Entspannung führen.
  • Schlechtes Gewissen für sein Verhalten gegenüber den Verwandten, da man durch die eigene Erfahrung des Altseins deren Leistungsgrenzen realistisch erlebt hat. Aus dieser Erfahrung können mehr Verständnis und grössere Geduld entstehen.

Was man selbst erlebt hat, kann man besonders gut nachvollziehen und begreifen: gemäss einer indianischen Weisheit: „Wenn du einen anderen Menschen besser verstehen willst, gehe hundert Schritte in seinen Mokassins.“


Titelfoto: https://flic.kr/p/3ZkdiD / https://www.flickr.com/photos/marcoarment/

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Hanne Meyer-Hentschel

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